Vor einigen Tagen hatte ich mal wieder ein sehr interessantes Gespräch mit meiner Mutter. Wie war das eigentlich damals, als mein Bruder und ich schwer von Nahrungsmittelunverträglichkeiten geplagt waren und vor allem mein Bruder notgedrungen vegan ernährt werden musste? War es in den 80ern so einfach wie heute? Wie hat sich die „Szene“ entwickelt? Und welche Klientel wurde damals, welche heute angesprochen und wie? Es sind längst nicht mehr die „Tschernobyl-Mütter“, die unbelastete Lebensmittel für ihre Kinder wollen. Meine Mutter war so nett ihre Gedanken noch einmal in Worte zu fassen und diese aufzuschreiben, so dass ein wie ich finde sehr interessanter Text entstand, denn ich heute gerne mit euch teilen möchte.
Hipp,Hipp Vegan?!
„Bereits vor ca. 30 Jahren habe ich mich mit dem Thema vegetarische/vegane Ernährung (wenn auch nicht ganz freiwillig) auseinander gesetzt.
Meine beiden Kinder kamen als Allergiker auf die Welt. Am schlimmsten traf es meinen Sohn, der schwer an Neurodermitis erkrankte. Nach vergeblichen Therapien bei verschiedenen Ärzten und Kliniken hieß für mich das vermeintliche Allheilmittel „Ernährung ohne tierisches Eiweiß“.
Leichter gesagt als getan, schließlich reden wir hier von den 80er Jahren! Von der Vielfalt der heute zur Verfügung stehenden Alternativen zur konventionellen Ernährung konnte ich damals nur träumen. Das Wälzen von unzähligen Büchern und die Jagd nach geeigneten Produkten strapazierten nicht nur meine Nerven, sondern auch meinen Geldbeutel. Bioprodukte und – wie es heute so schön heißt – „veggie“ Produkte waren nicht nur rar, sondern auch unverschämt teuer. Also verband ich das Praktische mit dem Nützlichen und “ heuerte“ im einzigen Naturkostladen der Stadt an. Fortan arbeitete ich also halbtags gegen Bezahlung in “ Naturalien“. Ich saß somit nicht nur quasi „an der Quelle“, sondern erhielt zusätzlich eine Schulung in Gesundheits- und Ernährungslehre. Mein Sohn wurde nach nur 14 tägiger konsequenter Ernährungsumstellung beschwerdefrei und ich vertiefte mich, durch den Erfolg angestachelt, in das Thema, so dass ich mein Wissen an die vielen verzweifelten „Allergikermütter“, die täglich den Laden aufsuchten, weitergeben konnte.
Mit dem SUV zum Biohof
Ich weiß noch genau, wie wir und unser Naturkostladen damals belächelt wurden. Es kamen mehr als einmal Sprüche wie “ Das Gemüse sieht ja aus, als ob es allein aus dem Laden laufen würde!“ oder “ Das ist alles nur Geldschneiderei!“. Naserümpfend gingen viele Leute an dem Laden vorbei, besonders die aus der sog. „Oberschicht“. Und das sind genau die Leute, die heute in Steppjacke und Perlenkette mit Ihren Benzinschleudern, wie z.B SUV und Porsche Cayenne, vor den Biohöfen Schlange stehen Nachhaltigkeit huldigen. Die wie ich sie nenne “ Luxusökos“.
Vegetarische oder vegane Ernährung ist hipp! Nicht aus der Not oder der Einsicht geboren, sondern als neues Lebensgefühl, im Besonderen in der jüngeren Generation. Zumindest wollen uns das die vielen Werbeagenturen und – ich nenne sie mal – Modeköche vermitteln. Doch wo bleibe ich als “ Öko-Veteranin“?
Mich als durchschnittliche Mitfünfzigerin „vom Lande“ gibt es für die große Veggie-Comnunity so gut wie gar nicht. Ganz „normal“ kochen ohne tierische Produkte ist heute “ Veggie Küche “ und Bedarf vermeintlich nicht nur einer Vielzahl an Hightechgeräten z.B. zur Herstellung von Smoothies ( die früher Gemüsesaft hießen), sondern auch Tausende von exklusiven Zutaten auf die Mann/Frau auf gar keinen Fall verzichten kann. Wenn wir denn der Werbung Glauben schenken.
Back to the roots
Aber das ist völliger Quatsch! Kommt zurück zu den Wurzeln und kocht doch einfach!! Vegetarische/ Vegane Küche ist kein Hexenwerk. Heute ist die Palette der Alternativen zu tierischen Lebensmitteln so groß wie nie zuvor. Auch habe ich mir damals kein einziges zusätzliches Küchengerät angeschafft und keine „abenteuerlichen“ Zutaten eingekauft und trotzdem für zwei Kinder vollwertig kochen können.Die Industrie meint die vegane Nische zu bedienen zu müssen und wirft fast täglich eine Vielzahl von neuen, in meinen Augen nicht immer nützlichen Produkten auf den Markt. Dinge die die Welt (meist) nicht braucht !
Alles was wir brauchen sind Lebensmittel, die tatsächlich noch LEBEN. Die meisten Produkte heutzutage dürften sich eigentlich nur noch Nahrungsmittel nennen, so stark wurden sie mittlerweile verändert. Dabei lassen sich mit bodenständigen, natürlichen Zutaten traumhafte Gerichte kochen.
Faire Mode nur für Zwanzigjährige mit Konfektionsgröße 36?
Auch auf dem Sektor Kleidung muss sich endlich etwas in den Köpfen der Anbieter ändern. Für die unzähligen fairen Modelabels und Firmen für faire Kleidung und Accessoires gibt es offenbar keine Kund_innen wie mich. Bei Kleidergröße 42 hört es auf, von der Schnittführung ganz abgesehen, so dass ich den Eindruck habe, dass nur gertenschlanke, jugendliche Menschen ihre Kleidung tragen sollten. Ich fühle mich diskriminiert!
Holt die Menschen dort ab wo sie stehen!
Wenn nicht schon seit 30 Jahren meine Lebensphilosophie von Ökologie und Nachhaltigkeit geprägt wäre, würde ich sagen: Macht es mir nicht so schwer ! Das Thema “ Veggie“ wie es neudeutsch heißt, wird in meinen Augen nicht niedrigschwellig genug kommuniziert. Soll heißen: Es wird dem Verbraucher suggeriert, dass er unbedingt viel Geld und Mühe investieren muss, um gesund/vegan/vegetarisch/wie auch immer zu leben.
Das nimmt vielen den Mut überhaupt damit anzufangen, was kontraproduktiv ist. Wer motivieren will, muss es einfach und unkompliziert machen, um alle anzusprechen und nicht nur die hippen Neuveganer oder die Klientel der neuen “ Luxus-Ökos“ für die es im Moment nur angesagt und schick ist sich gesund zu ernähren. Und im Winter dann beim Biss in die Erdbeere von Nachhaltigkeit reden.
Ihr vielen “ Veggie“ Köche, Modedesigner, Blogger, Fabrikanten denkt mal drüber nach. Weniger ist oft mehr! Beim Blick in die vielen Blogs und Veröffentlichungen über das vegane Leben erscheint mir der ein oder andere so verbissen und dogmatisch, dass er/sie durch die vegane Brille den Blick über den Tellerrand vergisst.
Also, weg mit dem Tunnelblick, dem Schnickschnack,dem Schickimicki. Wichtig ist es, die die Vorbehalte und Vorurteile gegenüber der vegetarische/veganen Küche abzubauen, damit Mensch sich traut überhaupt anzufangen.“
Ich möchte mich bei meiner Mutter bedanken, die mir diesen Text zur Verfügung gestellt hat und die, wenn ich mich an einige Konversationen in der letzten Zeit erinnere, sicherlich der einen oder dem anderen aus der Seele spricht.
Auch wenn es vielleicht viele Produkte ohne den aktuellen „Hype“ nicht geben würde: Ich wünsche mir, dass der tierleidfreie Lebensstil bei den Menschen nicht nur im Kopf, im Kühlschrank oder am Körper, sondern vor allem im Herzen ankommt. Denn nur dort kann er Wurzeln schlagen. Was nützen uns „Hardcore-Veganer“, die nach zwei Jahren wieder zum Steak aus Massentierhaltung greifen oder bei H&M und Co. billigste Mode, womöglich noch von Kinderhand gefertigt, kaufen?
13 Comments
Sybille
13. Juni 2013 at 14:22Wundervoller Text und wundervoll, dass Du mit Deiner Mum gemeinsame Sache machst und sie hier zu Wort kommen lässt.
Ich habe letztens erst darüber sinniert, dass meine Schwester vor ca. 8 Jahren sicherlich auch noch mehr „Schwierigkeiten“ bei der Umstellung hatte, als ich vor nun knapp einem Jahr. Wenn mir heute noch jemand erzählen möchte, dass vegan so anstrengend sei, muss ich ehrlich gesagt nur müde lächeln, denn das ist es überhaupt nicht, … wenn man nur will!
Hoffen wir gemeinsam, dass mehr Menschen in Zukunft aus Überzeugung „wollen“. 😉
amoureuse de la terre
13. Juni 2013 at 14:31Hey!
Super Beitrag!
Vielleicht kannst du deine Mutter ja mal öfter mitwirken lassen, sie kann uns sicher einiges an Erfahrung mitgeben und „bodenständige“ Methoden und vor allem Rezepte ohne viel Schnickschnack zeigen, das interessiert mich sehr.
Ich habe eine Freundin, die vor kurzem vegan geworden ist und sich seitdem durch das gesamte Kuriositäten-Sortiment shoppt, was ich manchmal regelrecht anstrengend finde und auch nicht immer nachhaltig (wenn alle Zustaten vom anderen Ende der Welt herangeschafft werden müssen). Für jemanden wie sie wären solche „ursprünglichen“ Alternativen sicher eine nette Inspiration.
LG
Linda
13. Juni 2013 at 15:26Sehr schön geschrieben und gerade das mit der fairen Ökomode stört mich auch ziemlich arg. Habe auch nicht gerade Size zero 😉
In Bezug auf das Essen stimme ich allerdings nicht zu 100% zu. Klar kann man ganz einfach und ohne Schischi vegan kochen und es muss auch nicht unbedingt teuer sein. Aber ein bisschen außergewöhnlich und glamourös finde ich ab und zu trotzdem nicht verkehrt.
Micha
13. Juni 2013 at 19:25Liebe Kathrin,
Ich ziehe den Hut vor Dir und deiner Familie!
Nicht nur, dass du die Erste bist die in Ihrem Text genau das wieder gegeben hat was wir als Lebensmittelhersteller und Gastronomen wollen und uns bewegt und daran Glauben, auch deine Mutter hat die gleiche Meinung. Eins kann ich dir aber gerne schon sagen, einige Food-Journalisten hatten wir ja schon hier und Sie haben es alle nicht so verstanden um was es uns geht. Aber Du. Ich würde mich sehr freuen, wenn es die Möglichkeit gibt, deine Mutter kennen zu lernen, vielleicht beim nächsten Besuch bei uns.
Liebe Grüße
Micha & Susi und das Tessenower Manufaktur Team
Kathrin
13. Juni 2013 at 19:46Hallo ihr Lieben,
danke schön für eure lieben Worte. Wir (meine Mutter liest fleißig mit) freuen uns sehr.
@Micha:
Vielen, vielen Dank für eure wunderbare Kritik. Sie bedeutet mir sehr viel. Mein Herz hüpft und ich freue mich auf den nächsten Besuch bei euch. Aktuell ist mein Vater (und somit unser Fahrer) im Hochwassereinsatz, aber das hat ja hoffentlich bald ein Ende. Auch meine Mutter ist schon sehr gespannt auf euch, soviel wie ich immer schwärme;)
Liebe Grüße nach Groß Grönau.
Kathrin
Micha
13. Juni 2013 at 21:57Na mal zum Glück hast du es in deinem Artikel über uns erwähnt, wir haben doch ein Shuttleservice, vielleicht nutzt Ihr den mal. 😉 Dann mußt du nicht so lange warte und ich nicht auf die Bekanntschaft mit deiner Mutter.
Ganz Liebe Grüße aus Groß Grönau
Micha
Kathrin
13. Juni 2013 at 22:13Haha, stimmt. Leider liegt Mölln aber außerhalb der 20km-Zone. Laut Google Maps um knapp 4 km. Oder seht ihr das nicht so eng;)?
Liebe Grüße zurück.
Kathrin
Micha
14. Juni 2013 at 07:47Mölln, liegt noch im Pendelbereich, an den 4 km soll es ja nicht scheitern. 😉
AIleen
13. Juni 2013 at 21:50Geteilt auf https://www.facebook.com/Minzgruen
Danke!
Woche 15 – Unsere Netzhighlights | Apfelmädchen & sadfsh
16. Juni 2013 at 10:10[…] 1. Mit der Veröffentlichung von Attila Hildmanns Vegan for Fit – Buch ist die vegane Ernährung zu einem richtigen Trend in Deutschland geworden und immer mehr Läden bieten vegane Produkte und Lebensmittel an. Doch wie gestaltete sich das Leben als Veganer vorher? In einem Gastbeitrag auf Kathrins Blog Ein bisschen Vegan berichtet Kathrins Mutter nicht nur über ihre persönlichen Erfahrungen als vegan kochende Allergikermutter, sondern schildert auch ihre Sicht auf sogenannte “Luxus-Ökos”. Fazit: Back to the roots statt Hipp, Hipp Vegan! […]
Heike
22. Juni 2013 at 03:48Hallo,
wow, ich bin also nicht der einzige“Dino“ in dieser Szene. Auch ich habe vor jetzt 32 Jahren angefangen, mich vegetarisch zu ernähren, und kann die damaligen Schwierigkeiten, geeignete Lebensmittel zu bekommen, nur bestätigen. Ich erinnere mich noch gut an die Fragen, ob ich denn auch keine Wurst oder Fisch essen würde…..und was ich denn überhaupt noch essen könnte!
Aber wie deine Mutter bin ich auch für das „Natürliche“, Ursprüngliche. Und dafür braucht man keine speziellen Rezepte, zubereitet wird mit dem, was grad im Haus ist. Und das sind ganz normale Obst- und Gemüsesorten, Getreide, Hülsenfrüchte und Kräuter, auch mal von der Wiese nebenan. Für die Bissfestigkeit mach ich Saitan aus Mehl und Wasser. Also alles normale Hausmannskost, so wie meine Oma es schon gekocht hatte – nur das Tierische lasse ich eben weg. Ich ersetze das auch nicht, weil das in meinen Augen schizophren wäre. Die Vegetarier heute machen viel zu viel Aufwand um eine eigentliche Selbstverständlichkeit. Allein schon diese ganzen Unterscheidungen, wie sich wer nennt, wenn man was isst, oder eben nicht. Man sollte das essen, was einem das Gewissen erlaubt, und nicht, was in einer Liste steht, wenn man zu einer der neumodischen Gruppen gehören will. Das Gleiche gilt für Kleidung, Verpackungen, wie man sich fortbewegt, usw.
Und Tessenower Manufaktur google ich jetzt mal…ist ja auch nicht so weit weg von Hamburg. 😉
Pixella
26. Juni 2013 at 17:10Ein großartiger Text!Bin schwer begeistert und würde auch gerne mehr aus dem Erfahrungsschatz deiner Mutter erfahren.:)
Mercury
28. Juni 2013 at 12:25Danke an deine Mutter für den tollen text! Mein bruder (90er Baujahr) hat auch stark Neurodermitis und so waren wir auch Stammgäste im Reformhaus und auf dem Biohof. Er bekam damals auch Sojamilch, was allerdings alles nur schlimmer machte, aber das wussten wir damals ja nicht. Soja ist stark Histaminpotent. Ich war zwar noch Kind, habe das damals aber auch alles miterlebt, ganz ohne „hippe“ Produkte.
Ich frage mich immer, wo die ganzen Rezepte von noch viel früher hin sind, als es den Sonntagsbraten gab. In der Woche gabs dann ja kein Fleisch, wo sind aber die Rezepte davon?
Ich vertrage den „hippen“ Kram von heute leider nicht, daher wären die Rezepte schon interessant. Seitan finde ich ekelhaft und Soja interagiert unregelmäßig mit meiner schrottigen Schilddrüse. Zur Zeit esse ich viel Bohnen, Kiechererbsen und Erbsen.